Kaum einer unter den vielen brasilianischen Stars und Helden könnte den Fussball des Landes besser einordnen als Carlos Alberto Parreira. Er war Fitnesstrainer der legendären Seleção, die 1970 den dritten WM-Titel holte, führte 1994 als Trainer die Brasilianer erneut zum höchsten Triumph und war 20 Jahre später technischer Direktor des Nationalteams bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ im eigenen Land. Heute ist er Mitglied der technischen Studiengruppe der FIFA, die bei FIFA-Wettbewerben die Spiele analysiert.
Parreira ist unser erster Gesprächspartner im Rahmen von Brazil 2014 Revisited, der ersten temporären Ausstellung des FIFA World Football Museums in Zürich, die am 21. September 2016 eröffnet wird. Trotz der historischen Schlappe Brasiliens im Halbfinale gegen Deutschland denkt Parreira gerne an das Fussballfest in seiner Heimat zurück und glaubt fest daran, dass der brasilianische Fussball zu alter Stärke zurückfinden wird. "Der Fussball ist in Brasilien nicht nur eine Kultur, sondern eine Religion. Manchmal hat man das Gefühl, den Glauben zu verlieren, aber tief drinnen ist er immer da", sagt er. "Wegen der vielen Erfolge, seines Stellenwerts in unserem Land, seiner Spielweise, seiner Schönheit und seiner Kunst hat er einen Platz im Museum verdient."
Herr Parreira, wenn Sie an die WM 2014 in Brasilien zurückdenken, was glauben Sie, macht den riesigen Erfolg dieses Turniers aus?
Es gab im Vorfeld grosse Zweifel, ob Brasilien diese WM organisieren könne. Wir mussten viel Kritik einstecken, aber letztlich fiel das Fazit mehrheitlich positiv und wohlwollend aus, weil alles sehr schön und sehr gut organisiert war. Uns ist bewusst, dass wir kein Erst-Welt-Land sind. Wir haben gegen aussen einige Probleme, die Frankreich oder Deutschland nicht haben. Dafür haben wir anderes zu bieten: unsere Menschen, die Schönheit der Natur oder das Essen. Brasilien hat viel unternommen, um eine tolle WM auf die Beine zu stellen. Ich bin überzeugt, dass wir einen positiven Eindruck hinterlassen haben.
Auf dem Platz hat die Seleção aber nicht das erreicht, was sich alle gewünscht hatten. Sind Sie dennoch der Meinung, dass wir hochstehende Spiele und tolle Fans gesehen haben?
Das technische Niveau war sehr gut. Gewonnen hat eine Mannschaft mit viel Erfahrung und Ordnung. Deutschland ist ein verdienter Weltmeister. Die Stadien waren voll, was so nicht zu erwarten war, um ehrlich zu sein. Da die Brasilianer bisweilen sehr wählerisch sind und sich nur für einige wenige Teams interessieren, waren bei Spielen von Teams, die im Fussball weniger stark verankert sind, halbleere Stadien zu befürchten. Doch letztlich war es überall voll. Es war ein gigantisches Fest, das für uns und alle im Fussball etwas ganz Besonderes war. Genau das dürfen wir nie vergessen. Die Fans erlebten vier tolle Wochen und haben nun die Möglichkeit, alles nochmals zu erleben.
Hat der brasilianische Fussball eine solche Ausstellung verdient?
Wenn ein Land eine Ausstellung über seinen Fussball verdient hat, dann Brasilien, das als einziges Land fünfmal Weltmeister geworden ist. Sein Fussball geniesst wegen der vielen grossartigen Akteure in all den Jahren und des spielerischen Niveaus weltweit die grösste Bewunderung. Heute haben wir vielleicht nicht mehr ganz das Niveau von früher, aber es gab schon immer schwächere Phasen, etwa 1966, 1990. Brasilien ist aber immer zurückgekommen.
Wird der Fussball in Brasilien noch immer zelebriert?
Wie wir die WM 1958 gewonnen haben, war fantastisch. Wir können nicht in der Vergangenheit leben, aber es sind grossartige Erinnerungen: wie die Tore herausgespielt wurden. Von Garrincha, von Pelé - wie könnte man das vergessen? Aber die Zeiten haben sich geändert. Vergleiche zwischen heute und früher bringen nichts. Bei der EURO gab es viele enge und umkämpfte Spiele, bei denen man sich letztlich aber fragen musste, wo die Spielkultur geblieben ist. Es waren hochklassige Spiele, aber es ging nur um Passspiel und Taktik. Die Spieler sind alle technisch versiert, aber ihnen fehlen die Genialität, das Improvisationstalent und die Kreativität. Wir in Brasilien haben unseren eigenen Stil und versuchen, den Ball etwas länger halten und zu dribbeln. Diese Spielweise müssen wir bewahren, aber leicht anpassen. Wegen seiner Erfolge, seiner Spielweise und seiner hohen Kunst hat der brasilianische Fussball einen Platz im Museum verdient.
Sie sind also zuversichtlich, dass Brasilien zurückkommen wird?
Wir haben ein unerschöpfliches Talentreservoir. Wir sind das einzige Land, in dem von Januar bis Dezember landauf, landab Fussball gespielt wird. Die Kinder beginnen schon mit vier oder fünf Jahren mit dem Fussball. Sie spielen zwar nicht mehr auf der Strasse, dafür aber bei organisierten Klubs. Wir haben eine grosse Bevölkerung, aus der wir die Besten auswählen können, was ganz wichtig ist. Einige waren bei den Olympischen Spielen zu sehen. Um die reissen sich schon jetzt die besten Klubs der Welt: Gabigol und Gabriel Jesus , die schlicht brillant sind. Oder Luan , der ebenfalls ein sehr guter Spieler ist, und dann natürlich Neymar. Und plötzlich haben wir wieder einen erstklassigen Sturm. So schnell kann das im Fussball gehen. Wenn sich neben Neymar noch weitere Spieler etablieren, werden wir bei der nächsten WM eine tolle Offensive haben. 2022 werden wir dann so richtig bereit sein.
Brasilien hat unzählige Ballkünstler hervorgebracht. Wer sind in Ihren Augen die fünf grössten?
Das ist ganz schwierig. Selbst zehn auszuwählen, ist schon ein Kunststück . Ich tue mich mit so etwas immer schwer. Alle sind wichtig. Man kommt natürlich nicht an Pelé und Garrincha vorbei. Aber es gibt Unzählige mehr, auch in dieser goldenen Generation, die zweimal Weltmeister wurde . Nilton Santos ist ein Monument, Zagallo, der 1970 als Erster auch als Trainer Weltmeister wurde, an der Seite von Tostão. Ich denke an Rivelino, Carlos Alberto, dann kommen Zico, Sócrates und so weiter. Und das waren erst die Älteren. Wir müssen natürlich auch von Ronaldo, Rivaldo und Ronaldinho sprechen und von vielen mehr. Der Fussball ist bei uns nicht nur eine Kultur, sondern eine Religion. Manchmal hat man das Gefühl, den Glauben zu verlieren, aber tief drinnen ist er immer da.